Krisenbewältigung ist ein aktuelles Thema. Deswegen hat Medicom mit dem österreichischen Notfall- und Militärpsychologen Bernhard Penz gesprochen. Er erzählt, welche Strategien es gibt, um in Krisensituationen Herausforderungen meistern zu können. Jetzt im Experten-Interview mehr lesen oder im Podcast hören.
Medicom: Wann würden Sie als Psychologe sagen, befindet man sich in einer Krisensituation? Was versteht man darunter?
Penz: Wir bezeichnen etwas als Krise, wenn für eine bestimmte Situation die gewohnten Problemlösungsstrategien einer Person nicht mehr oder nur eingeschränkt zur Verfügung stehen, beziehungsweise die eigenen Bewältigungsstrategien nicht unmittelbar zu Verfügung stehen. Das heißt, wenn der Ausgleich zwischen der Schwierigkeit der Problemstellung und der Verfügbarkeit von Lösungsmöglichkeiten nicht mehr gegeben ist.
Medicom: Man steckt fest in seiner Situation? Was wäre eine erste Möglichkeit damit umzugehen? Eventuell muss man auch selbst erst einmal verstehen was passiert?
Penz: Ja, es ist ganz wichtig, da erst einmal innezuhalten und zu sagen, was spielt sich hier jetzt eigentlich ab? Das kann man sich in verschiedenen Situationen sogar selbst antrainieren. Denken Sie zum Beispiel an Piloten vor dem Start oder Chirurgen bevor sie in den Operationssaal gehen. Dort findet immer erst ein Check statt. Man geht anhand von ganz klaren Strukturen und Vorgangsweisen aus, anhand derer man feststellen kann, ob etwas funktioniert oder nicht.
Die natürliche Reaktion wäre dann einfach Gas zu geben. Und das ist aber genau die falsche Reaktion.
Häufig ist es nämlich so, dass man sich zu schnell selbst noch tiefer in die problematische Situation hineinmanövriert. Man kann das zum Beispiel damit vergleichen, dass man bei starkem Schneefall mit dem Auto unterwegs ist und die Gefahr besteht stecken zu bleiben. Die natürliche Reaktion wäre dann einfach Gas zu geben. Und das ist aber genau die falsche Reaktion. Richtig ist ‚runter vom Gas‘ und sich fragen, was könnte jetzt noch gut gehen und welche Hilfsmittel habe ich, um aus dieser Situation wieder gut herauszukommen.
Medicom: In einer Situation der Überforderung spüren wir auch ganz deutliche Reaktionen unseres Körpers, sogenannte somatische Marker, wie Herzklopfen, Bauchweh etc., die uns aufrufen inne zu halten und zu überlegen was passiert. Ist es nicht auch so, dass wir aufgrund unserer ganz eigenen Geschichte, auch ganz unterschiedlich auf herausfordernde Situationen reagieren?
Penz: Ja, absolut und je häufiger wir solche Situationen schon erlebt und überstanden haben, desto krisenfester werden wir auch, das ist der positive Fall. Sollte eine Krise nicht bearbeitet und überwunden worden sein, können wir natürlich auch erkranken. In zahlreichen Bereichen können wir durch diese Krisen allerdings auch wachsen.
Und da komme ich zu unserem sogenannten Bauchgefühl, das wir uns über bestimmte Erfahrungen im Laufe der Zeit angeeignet haben. Kommt dieses Gefühl, wissen wir, es ist Zeit innezuhalten, durchzuatmen, um wieder in die Schaltzentrale zu gelangen und nicht von den Emotionen überwältigt zu werden, damit wir ein Problem möglichst gut bewältigen können. Es ist wichtig von den im ersten Moment aufkommenden Emotionen wegzukommen, hin zu den Kognitionen, welche uns wiederum helfen können, mit einer Situation gut zurecht zu kommen.
Medicom: Derzeit befinden wir uns alle in derselben außergewöhnlichen Situation. Wir sind alle mehr Zuhause, beschäftigen uns vermehrt mit uns selbst, sind jedoch auch einem gewissen Informationsüberflusses ausgesetzt. Neue Technologien, Social Media, welche Rolle spielen diese hier?
Penz: Ich denke, dass es hier zwei Seiten gibt, die man sich gut anschauen muss. Einerseits sind die neuen Technologien, die uns in dieser Zeit zur Verfügung stehen doch ein Segen. Informationen können weiterhin vermittelt werden. Zum Beispiel von den öffentlichen Sendern, die nach wie vor an uns berichten und wir uns auch weltweit unterhalten und informieren können. Wäre so eine Situation wie heute vor 20 Jahren passiert, wäre das nicht in dieser Form möglich gewesen. Ich bin davon überzeugt, dass wir aus dieser Zeit lernen werden, dass uns die neuen Medien ein leichteres Leben ermöglichen. Wir können über sie auch jetzt auch soziale Kontakte pflegen und später werden wir für geschäftliche Treffen auch nicht mehr so viel reisen müssen. Das sind die positiven Effekte.
Man sollte die Medien nur ganz kontrolliert nutzen. Es gibt auf den sozialen Medien zu viel Desinformation.
Negativer Effekt ist das daraus entstandene Bedürfnis ständig in die Medien eintauchen zu wollen, um ununterbrochen Informationen zu sammeln. Das ist ein Nachteil, weil wir dann zu sehr in eine virtuelle Welt eintauchen und uns nicht mehr im Hier und Jetzt befinden. Man sollte die Medien nur ganz kontrolliert nutzen und zwar die öffentlichen, um seriöse Informationen zu bekommen und auch nur zu bestimmten Zwecken und zu einem bestimmten Umfang. Es gibt auf den sozialen Medien zu viel Desinformation, die nichts anderes tut als die Problemstellung zu verstärken, weil es hier keine Kontrollmöglichkeiten gibt.
Und ich empfehle auch, dass man sich über die neuen Technologien nur Gesprächspartner sucht, die einem gut tun, und umgekehrt im Gespräch versucht auch anderen wiederum gut zu tun.
Medicom: Sie haben auch Erfahrung mit ganz intensiven Krisensituationen. Sie haben Einsatzkräfte begleitet, die zum Beispiel nach dem Tsunami in Thailand, bei den Bergbahnunglück in Kaprun oder auch im Tschad zum Einsatz gekommen sind. Sie haben Menschen begleitet, die unter extremen Bedingungen tatkräftig geworden sind. Was haben Sie dabei beobachtet?
Penz: Der wichtigste Punkt hier ist Einsatzkräfte so zu begleiten, dass sie in ihren Fähigkeiten und Fertigkeiten bleiben können. Es ist also wichtig dafür zu sorgen, dass sie sich körperlich fit halten können, um ihre Aufgaben in einer solchen Situation erfüllen zu können. Es ist eine gewaltige Belastung und hier ist es hilfreich, dass sie jemanden haben, der auf sie schaut, da sie sich völlig auf ihre Aufgabe konzentrieren. Man muss darauf achten, dass Pausen zur Erholung eingehalten werden, oder dass es nach besonders belastenden Situationen wie Kaprun (Gletscherbahnbrand 2000) oder Galtür (Lawinenkatastrophe 1999) oder in Thailand (Tsunami 2004), immer einen Raum gibt für Gespräche, für den Austausch und eine Nachbetreuung, damit das Erlebte nicht mit nach Hause genommen wird.
Das ist die Aufgabe des Notfallpsychologen, um den Einsatzkräften die Möglichkeit zu geben, für sich wieder Sicherheit und Kraft für neue Aufgaben zu bekommen. Jeder Einsatz wird somit nicht nur technisch sondern auch psychologisch nachbereitet.
Medicom: Ist es nicht auch beeindruckend zu beobachten, was man alles schaffen kann. Das wir soviel mehr können, als wir eigentlich glauben?
Penz: Das zeigt sich auch gerade jetzt in der momentanen Situation und das nicht nur bei den Menschen die stark im Einsatz sind, sondern auch bei der Bevölkerung. Und das bestätigt uns auch, dass wenn wir Menschen gefordert sind, wir Unglaubliches leisten können. Und die Besonderheit an solchen Ereignissen ist, zu sehen wie sehr in solchen Situationen die Menschen zusammengreifen können und ein Wir-Gefühl erleben, während im Normalfall das ‚Ich‘ überwiegt. Und gerade dieses Wir-Gefühl macht enorm stark.
Medicom: Welches sind die persönlichen Ressourcen, die jeder in sich trägt?
Im Chaos scheint alles auseinander zu fließen und das Gegenmittel hier ist Struktur.
Penz: Besonders in solchen Situationen, wo wir in unserer Bewegung eingeschränkt sind, ist es sehr wichtig sich eine Struktur zu erschaffen. Im Chaos scheint alles auseinander zu fließen und das Gegenmittel hier ist Struktur. Sie kann uns helfen, den Alltag gut zu bewältigen.
Zum Beispiel, auch wenn es jetzt möglich wäre, nicht morgens auszuschlafen, sondern früh aufzustehen und einer Routine nachzugehen. Wie ein paar Fitness- oder Yogaübungen, oder eventuell kann man etwas Neues entdecken, für das man bisher noch keine Zeit hatte. Wichtig ist auch, für sich Zeiten zu finden, Dinge zu tun, von denen ich weiß, dass sie mir guttun, für die ich aber bisher keine Zeit hatte. Ein ganz entscheidender Punkt ist natürlich auch die Ernährung. Man ist nun leichter versucht, immer wieder zum Kühlschrank zu gehen, auch zu viel Süßes zu essen. Das macht eventuell zuerst Spaß, aber auf die Dauer macht es müde und träge. Das sollte man vermeiden. Wann immer es möglich ist, sollte man gemäß der vorgegebenen Einschränkungen auch täglich an die frische Luft gehen, von der man ja sofort schon gemerkt hat wie viel besser sie geworden ist.
Medicom: Im Zusammenhang mit herausfordernden Situationen taucht neuerdings auch immer wieder der Begriff Resilienz auf. Wir scheinen alle darüber zu verfügen, aber wie kann man auf sie zugreifen, beziehungsweise was ist das überhaupt?
Resilienz: Das heißt eine bestimmte Biegsamkeit und Anpassungsfähigkeit an Situationen ohne dabei unterzugehen.
Penz: Einfach erklärt könnte man so sagen: Wenn Sie zum Beispiel bei sich in den Garten schauen, sehen Sie vielleicht eine Birke. Sie ist für mich der Inbegriff von Resilienz. Und zwar insofern, als dass sie ein wunderschöner Baum ist, in einem Sturm wird sich diese Birke verbiegen, manchmal sogar so stark, dass sie mit dem Wipfel auf dem Boden aufkommt, aber sie springt dann wieder zurück in ihre ursprüngliche Form. Das ist das, was wir unter Resilienz verstehen. Das heißt eine bestimmte Biegsamkeit und Anpassungsfähigkeit an Situationen ohne dabei unterzugehen. Das heißt aber auch manchmal nachzugeben und nicht dagegenhalten zu müssen.
Die Birke versucht ihre Kraft und ihr Leben zu erhalten, in dem sie im Sturm mitschwingt, aber dennoch ihre Form behält. Das ist das, was wir auch im Leben versuchen sollten, wenn Probleme auf uns zukommen, die nicht gleich anpackbar sind, bereit zu sein, uns entsprechend aus der Situation hinauszubewegen, aber trotzdem auch unsere Integrität zu behalten. Um das tun zu können, muss ich im Alltag eben die entsprechenden Voraussetzungen schaffen, das sind physische und psychische Gesundheit, Ernährung und soziales Umfeld, Freunde und gut eingebettet sein. So kann Resilienz geschaffen und bewahrt werden, wir sind gut eingebettet und jeder schaut gut auf sich selbst aber auch auf die Gemeinschaft. So können wir uns mit der Natur mitbewegen, resilient sein und die größten Krisen überstehen.
Medicom: Vielen Dank für das Gespräch.
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